EINE KLASSE FÜR SICH

Krieger der Sterne – (Text Sebastian Gehrmann, Pic Sebastian Gehrmann | PIC: Getty Images, Tilo Wiedensohler)

Wie gerne hätten wir auch mit Ademola Okulaja über diese Zeit in der Nationalmannschaft gesprochen. Und wie gerne mehr über ihn selbst erfahren. Leider ist das nicht mehr möglich. Große Geschichten kann man dennoch über ihn schreiben. Viel zu kleine hat es bislang gegeben. Über einen, der fehlt. Wie genau kann einem das eigentlich gelingen? Einen Spieler treffend und tiefgründig zu beschreiben und das möglichst bis in jeden Winkel seines Wesens, wenn selbst die, die Ademola Okulaja nach so vielen gemeinsamen Jahren wirklich und wahrhaftig kennen sollten, das kaum können. Wenn jemand so schwer zu greifen, weil zu begreifen ist. Stephen Arigbabu. Mithat Demirel. Patrick Femerling. Henrik Rödl. Für gewöhnlich hatte seinen ehemaligen Mitspielern in den vielen Gesprächen für dieses Heft ein beliebiger Name aus der Mannschaft als Stichwort genügt, und sie hatten die grandiosesten Geschichten aus dem Gedächtnis gekramt, als würde jede Erinnerung in einer Vitrine stehen, vollgestopft mit adoleszenten und anarchischen Trophäen. Jeder dumme Spruch von Demirel im Bus. Jede heimliche Zigarette von Femerling im Hotel. Jeder Dunk von Sven Schultze am Ende eines Trainings auf Mallorca, splitterfasernackt bis auf die Socken und Turnschuhe, obwohl Schultze schwört, mit Hose und nicht mit blankem Hintern gedunkt zu haben. Auf keinen Fall habe er eine Hose getragen, sagt Demirel. Femerling sagt, er habe irgendwo sogar noch ein altes Video gefunden. Keine Hose. Von Ademola Okulaja gibt es so gut wie keine dieser unverwechselbaren Anekdoten auf Abruf, keinen unerschöpflichen Almanach an großen und kleinen Ungeheuerlichkeiten, hanebüchen und zum Haareraufen, witzig, widerspenstig und mitunter ziemlich wild. „Ademola war cool, aber immer etwas anders. Er war geheimnisvoll“, sagt Arigbabu, der über zwölf Jahre bei Länderspielen gemeinsam mit Okulaja auf dem Parkett gestanden hat. Zum ersten Mal spielten sie 1996 in Buenos Aires zusammen gegen Kuba, da war Okulaja 21 Jahre alt und lief nach einer Saison als fester Bestandteil des Bundesligakaders von Alba Berlin und dem Gewinn des Korac-Cups, dem größten internationalen Erfolg einer deutschen Vereinsmannschaft, mittlerweile in North Carolina an der Seite von Vince Carter, Antawn Jamison und Shammond Williams auf. Und zum letzten Mal dann 2007 bei der Europameisterschaft in Spanien, als ihre Nationalmannschaftskarrieren im selben Spiel endeten, gegen Kroatien um Platz fünf. Wobei sich das in diesem Moment nur für Arigbabu nach Abschied angefühlt hatte. „Während wir weggegangen sind, hat er meistens sein eigenes Ding gemacht“, sagt Arigbabu. „Aber niemand wusste genau, was.“ Bei Femerling und Pesic habe er immer damit rechnen müssen, dass sie irgendwann mitten in der Nacht in sein Hotelzimmer stürmten und auf ihn sprangen. Weshalb er irgendwann anfing, sich den Wecker zu stellen, um vorbereitet zu sein. „Du hast dir ernsthaft den Wecker gestellt?“, fragt Femerling ungläubig. Aber Okulaja? „Keine Ahnung, wo der war. Das war schon irgendwie mysteriös“, sagt Arigbabu. Kein richtiger Außenseiter sei er deshalb gewesen, „aber irgendwie schon“. Einer, der nicht wirklich dabei war, „und doch immer voll akzeptiert und integriert“. Okulaja sei vielleicht nicht dieser Spielertyp gewesen, „der einer Mannschaft jenseits des Parketts viel gibt“, sagt Demirel. „Aber ohne jeden Zweifel ein Spieler, der alles dafür getan hat, dass seine Mannschaft gewinnt.“ Das, sagt Rödl, „war schließlich die große Stärke dieser Nationalmannschaft. Jeder konnte sein, wie er ist.“ Vielleicht ist auch das ein Grund, sagt Arigbabu, „warum er so schwer zu beschreiben ist“. Weil sie ihn gelassen haben. Weil er für sich sein konnte. „Und auf der anderen Seite hat er es uns genauso gegönnt, dass wir unterwegs waren und uns wie 14- bis 16-jährige Trottel benommen haben“, sagt Femerling. „Er war nie sauer oder angepisst.“ Und wenn man keinen Alkohol trinkt, verpasst man in so einer Mannschaft eben ein paar Geschichten. Und die anderen verpassen einen auch. Also ist das kein klassisches Porträt. Es ist keine Chronologie seiner sportlichen Stationen und größten Erfolge. Keine weitere Folge einer Serie aus Statistiken. Es ist auch kein Nachruf. Dersteht nur seinen Nächsten zu. Es ist der Versuch einer Annäherung. An den Spieler. Und vor allem an den Mitspieler. „Ademola war der wichtigste Spieler neben Dirk“, sagt Arigbabu, und niemand innerhalb des Teams habe jemals an dem Offensichtlichen gezweifelt. Vermutlich gibt es außer Arigbabu auch nur wenige Spieler im Kader, denen das Training für Training immer wieder und aus nächster Nähe vor Augen geführt wurde. Die es zu spüren bekamen. Und es am besten wussten. „Meistens habe ich ja gegen einen der beiden gespielt. Das war schon tough“, sagt Arigbabu. Bereits auf den Freiplätzen in Berlin, wo am Innsbrucker Platz Anfang der 90er alles begann mit Okulaja und der Liebe zum Basketball, hatte sich das angedeutet. „Und zwar alles“, sagt Demirel. Egal, wann er auf den Freiplatz gekommen sei, Okulaja sei schon dagewesen. „Er war einfach immer da, und er wollte immer mehr.“ Immer besser werden. Immer gewinnen. Immer recht haben. Immer diskutieren. „Um jeden Ball und manchmal eine halbe Stunde lang. Er hatte da, wie eigentlich in allem, was er gemacht hat, eine unglaubliche Ausdauer. Das kann gerade auf dem Freiplatz irgendwann echt anstrengend werden.“ Später in den Jugend- und Auswahlmannschaften, wo ihm Christoph Büker (Pressesprecher des Deutschen Basketball Bundes, damals Regionalliga-Spieler in Münster) oder Femerling (der damals noch in der Zweiten Liga bei Düsseldorf spielte) gegenüberstanden, war sein auffälliges, weil ungewöhnliches basketballerisches Talent dann für jeden offensichtlich. Diese herausragende Athletik und Dynamik, angetrieben von unbändigem Willen, nimmermüder Einsatzbereitschaft und unzweifelhaftem Ehrgeiz. „In keinem Spiel hat er aufgegeben“, sagt Rödl, „in keinem Training hat er sich jemals hängen lassen. Wir haben alle viel gemacht. Aber er war einer, dem das noch nicht genug war.“ Als „24-Stunden-Basketball-Typ“ bezeichnet ihn Arigbabu.

Basketball Trainingslager Palma de Mallorca (ESP) 02.08.2007 Deutsche Basketball Nationalmannschaft Ademola Okulaja Foto: Camera4

„Für Ademola war auch alles ein Wettbewerb“, sagt Demirel. „Und er hat oft so gewirkt, als wäre er nie zufrieden mit dem, was er erreicht hat. Er hat verdammt hart an seinem Spiel gearbeitet. Er wollte das Maximale aus sich herausholen. Und jedes Jahr ist er besser geworden.“ Denn so außergewöhnlich seine physischen Voraussetzungen gewesen seien, ein außergewöhnliches basketballerisches Supertalent sei Okulaja nicht gewesen. „Er hat viel investiert, um sich Dinge anzueignen, die anderen leichter gefallen sind“, sagt Demirel. „Aber er hat einfach niemals aufgegeben.“ Weiter. Immer weiter. Bis zu den Sternen. Und weiter. Auf dem Campus in Chapel Hill erzählt man sich bis heute die Geschichte, wie Williams, der unter einer Schlafstörung litt, auch mitten in der Nacht in die Halle ging, um zu trainieren. „Und Ademola, der sehr eng mit Shammond war, hat ihn oft begleitet“, sagt Rödl. Überhaupt glaubt Rödl, der 1993 die NCAA-Meisterschaft mit den Tar Heels gewann und auf dessen Empfehlung sich Dean Smith überhaupt erst mit dem jungen Okulaja beschäftigt hatte, bis er irgendwann bei dessen Mutter im Wohnzimmer saß und es Apfelkuchen gab, „dass dieser Ort und seine ehemaligen Mitspieler für Ademola immer einen ganz besonderen Stellenwert hatten“. Oft habe Okulaja deshalb während der Länderspiele mitten in der Nacht mit seinen Leuten in den USA telefoniert, weshalb die Sache mit dem Einzelzimmer, das er bei Turnieren oft bewohnte, keine so schlechte Idee war. „Er war meiner Meinung nach niemand mit einem besonders großen Freundeskreis, aber die Verbindungen nach North Carolina waren speziell“, sagt Rödl. „Dort ist er auch jeden Sommer hin, um weiter zu trainieren“, sagt Demirel. Sweet Spot. Wer sich selbst einen Eindruck davon verschaffen will, wie wichtig Chapel Hill für Okulaja war und umgekehrt, sollte sich unbedingt den Podcast anhören, den Williams mit ehemaligen Mitspielern nach Okulajas Tod aufgenommen hat. Und natürlich auch den Podcast mit Okulaja selbst. Und am besten sollte man ihn sich übrigens ansehen ‒ weil es auch einen Videomitschnitt gibt. Die fast neunzig Minuten (was deutlich länger als die Stunde ist, die der Podcast für gewöhnlich läuft) kommen einem sehr bekannt vor, weil man Okulaja dabei ähnlich wie die anderen Nationalspieler während der Videocalls für dieses Heft erlebt. Da ist dieses melancholische Zurückerinnern, die anekdotische Verbundenheit, das fantastische Flashback- Feuerwerk, das, wenn es einen nicht täuscht, nicht nur noch immer gut aussieht, sondern sich vor allem gut anfühlt. Wie sie im Wagen von Williams in Chapel Hill herumfuhren ‒ in dem diese übertriebene Musikanlage verbaut war, bei der der Bass einen Herzschlag verändern konnte ‒ und Mädchen anquatschten. Am College zu spielen, bedeutete Ende der 90er für Okulaja jedoch auch, in Deutschland für eine Weile vom medialen Radar zu verschwinden. Dass er in den vier Jahren mit NorthCarolina gleich zweimal im Final Four stand und dabei Zahlen auflegte, die eigentlich eine sichere Eintrittskarte in die NBA hätten sein müssen, das alles wurde erst retrospektiv mit vielen Jahren Verzögerung immer bemerkenswerter und deshalb erwähnenswerter. Zudem geisterte zu dieser Zeit das sorgsam gepflegte Vorurteil durch Basketballdeutschland, wonach Spieler an einem US- College die mitnichten bessere Ausbildung genossen. Sie sogar wichtige Entwicklungsjahre ihrer Karriere vergeuden würden. Svetislav Pesic, den vor allem die Berliner in der Nationalmannschaft nur „den Alten“ nennen, gehörte zweifelsohne zu den lautstärksten Verfechtern dieser Theorie. „Wobei ich schon glaube, dass er ohnehin nicht gut auf Ademola zu sprechen war, weil er nicht in Berlin geblieben ist“, sagt Rödl. Auch in Barcelona, vermutet Arigbabu, habe er deshalb gehen müssen, als Pesic kam. Und Büker erinnert sich an eine Pressekonferenz beim Supercup vor der Weltmeisterschaft in Indianapolis, als die beiden verbal aneinandergerieten, nachdem sich Pesic abfällig über die Summer League geäußert hatte, in der Okulaja versuchte, sich für einen NBA- Vertrag zu empfehlen. Die Schärfe habe ihn gleichzeitig überrascht und doch nicht gewundert, sagt Büker. Schon immer sei Ademola ein meinungsstarker, mitunter eigenwilliger und deshalb auch streitbarer Spieler gewesen, sagt Büker. Einer, der auf seine Art und Weise das Team geprägt habe. „Er hatte zweifelsohne seinen eigenen Kopf“, sagt Rödl. Und er sei mit einem immensen Selbstvertrauen aus Amerika zurückgekommen, wo er in North Carolina, bei einer der renommiertesten Basketballunis überhaupt, ein absoluter Star war. Und auch wenn es anschließend nie zu einem Engagement in der NBA kam, habe es nur wenige Spieler in Europa gegeben, die auf Vereinsebene auf solch eine Vita zurückblicken konnten und in ihren jeweiligen Teams eine solche Rolle gespielt hätten, sagt Rödl. „Er hat in anderen Ländern, in denen er gespielt hat, mit Sicherheit auch mehr Aufmerksamkeit bekommen als in Deutschland“, sagt Demirel. „Trotzdem hat es bei aller Überzeugung auch sehr viel Mut gebraucht, Trainern gegenüber aus seiner Meinung keinen Hehl zu machen und Dinge sehr offen anzusprechen“ , sagt Rödl. Kein Lautsprecher sei Okulaja gewesen, aber mitnichten zurückhaltend. „Er war vielleicht nicht immer ganz einfach“, sagt Femerling, „aber das musste er auch nicht sein.“ In einer Nationalmannschaft gehören unübersehbare und unüberhörbare Egos dazu. „So sind Profisportler“, sagt Femerling. Und im Idealfall gesteht man sich dabei gegenseitig zu, was man selbst für sich fordert. Was ihnen augenscheinlich oft besser als anderen Auswahlmannschaften gelungen sei. Neben dieser Akzeptanz, sagt Femerling, „brauchte Ademola zudem das Gefühl, wichtig zu sein. Dass man ihn respektiert und ihm einen gewissen Status in der Mannschaft zugesteht. Und den hat er ja auch bekommen. Schließlich hat er immer geliefert. Und er war immer da.“ Für die Nationalmannschaft zu spielen, sei für Okulaja eine Selbstverständlichkeit gewesen. „Ich glaube, er hat sich wohlgefühlt“, sagt Femerling. Eine Nominierung, egal ob für die Weltmeisterschaft in den USA oder die EM-Qualifikation auf Zypern, habe er nie in Frage gestellt. Auch nicht in den ersten Jahren, als er in einer sehr schwierigen Zeit zur Nationalmannschaft gestoßen sei, sagt Rödl, einer Zeit, „in der nach dem EM-Titel 1993 viele keine Lust mehr hatten zu spielen und in der es auch viel Ärger gab“. Schon damals sei auffällig gewesen, wie sehr sich Okulaja in jedem Training selbst herausfordern konnte. Und andere auch. Über die Jahre, so erinnern es die Spieler, habe man es irgendwann lediglich nur noch zur Kenntnis genommen, wenn es im Training mal wieder lauter wurde ‒ oder es einfach ignoriert. Nur manchmal, es muss etwa unter Dirk Bauermann in Dortmund gewesen sein, „hat mal jemand was zu ihm gesagt“. An die genauen Umstände kann sich Arigbabu nicht mehr erinnern, nur dass Bauermann sie hatte Linienpendel sprinten lassen, „weil Ademola irgendeine Scheiße gemacht hat. Natürlich werden dann mit den verklärten Jahren aus zwei irgendwann vier und aus vier dann acht“, sagt Arigbabu. „Doch auf jeden Fall hat Ademola nach jedem Lauf zu Bauermann rübergesehen und gerufen: ‚Come on, coach!‘ Und dann mussten wir wieder laufen.“ Und wieder. „Bis jemand Ademola angemacht hat, dass er endlich die Klappe halten soll.“ Und dennoch habe er nicht als nervensägender Querulant gegolten. „Ademola war vor allem hart zu sich selbst“, sagt Demirel, was man leicht missverstehen, weil als Mitspieler leicht auf sich beziehen konnte. Hin und wieder habe er deshalb vermitteln oder Okulaja auch beruhigen müssen. „Dieses Impulsive, das er hatte, konnte schon irritierend sein“, sagt Demirel. „Er hatte vermutlich immer irgendwie das Gefühl, es allen beweisen zu müssen“, sagt Femerling. „Dabei hatte er das gar nicht nötig.“ Und dann war da ja auch noch dieses verschmitzte Lächeln. Dieser „Nehmt es mir nicht übel, istdoch alles nur ein Spaß“-Blick. „Der hat ihn oft gerettet“, sagt Demirel. „Mit dem konnte keiner sauer auf ihn sein.“ Und überhaupt habe Okulaja niemals den Kontakt zur Gruppe verloren. Dass Ademola Okulaja ein Spielertyp war, den es in der deutschen Nationalmannschaft zuvor so nicht gegeben hatte, der dem Team, das traditionell nicht unbedingt wegen seiner Physis und Spielhärte gefürchtet wurde, etwas gab, was man wahlweise mit Körperlichkeit, Robustheit oder auch Widerstandsfähigkeit beschreiben könnte, diese Geschichte wäre während seiner 172 Länderspiele dennoch ganz sicher hoch und runter erzählt und dann noch unzählige Male rezitiert worden. Jeder hätte sie gekannt. Ganz unabhängig davon, welcher Trainer welche Meinung vertrat. Dass er das Spiel mehrdimensionaler machte und unberechenbarer. Dass er je nach Aufstellung und Konstellation ein permanentes Mismatch war. Wie schwer er zu verteidigen war, kaum aufzuhalten. Nicht für Small Forwards, die seiner Physis nur schwer etwas entgegenzusetzen hatten. Nicht für Power Forwards, die erhebliche Probleme mit seiner Geschwindigkeit bekamen. Und dass er das Spiel in gewisser Weise nach seinen eigenen Regeln spielte, weil er mit seiner hartnäckigen Unnachgiebigkeit beim Rebound so verdammt unangenehm und lästig sein konnte. Weil er einem keine Ruhe ließ. Weil er jede Nachlässigkeit, jeden Moment der Unkonzentriertheit umgehend bestrafte. „Pain in the ass.“ Wer da nicht mitspielte, hatte bereits verloren. „Ademola war einfach krass“ , sagt Arigbabu. „Er hatte diese wahnsinnige Energie.“ Jetzt, da er sich für dieses Heft noch einmal das eine oder andere Spiel angesehen habe oder auch teilweise habe ansehen müssen, sagt Femerling, um den eigenen Erinnerungen auf die Sprünge zu helfen oder an Spiele erinnert zu werden, die er am liebsten vergessen würde, „ist mir wieder bewusst geworden, was für einen unglaublichen Motor er hatte. Wie er zu jedem Rebound gegangen ist, das war schon verrückt.“ Diese unnachahmliche Konsequenz war zweifelsohne Okulajas Alleinstellungsmerkmal, sein Markenzeichen. Und nichts machte das Bild des Kriegers, das er sich selbst gab und pflegte, wahrhaftiger als die unzähligen Rebounds, die er sich im Laufe seiner Karriere griff. Weil nichts den Warrior auf dem Parkett authentischer machte. Eins-gegen- eins. Eins-gegen-zwei. Eins-gegen-drei. Wie oft hat man Spieler, Trainer und Kommentatoren vom Kampf um den Rebound philosophieren gehört? Ein Rebound ist das Tattoo in den Statistiken. Ein Symbol von Schmerzen aushalten und Härte zeigen. Schwarz auf weiß. Defensiv ohnehin. Aber offensiv noch so viel mehr. Für einen Rebound muss man sich durchbeißen, Widerstände überwinden, den längeren Atem haben. Für einen Rebound muss man besser sein. Besser antizipieren. Sich besser positionieren. Besser agieren. Ein Rebound kann einem natürlich in den Schoß fallen, aber meistens bekommt man ihn nicht geschenkt. Man muss ihn sich erkämpfen. „Ich denke schon, dass er sich so gesehen hat“, sagt Femerling. Immer irgendwie kämpfen zu müssen. Und er meint sich an eine Geschichte zu erinnern, die man sich über den sehr jungen Okulaja erzählte. „Ich weiß nicht genau, ob sie stimmt, aber zu ihm passen würde sie auf jeden Fall.“ Als Dreijähriger war Okulaja aus Nigeria nach Berlin gekommen, als Kind habe er später eine Art Metallschiene aufgrund einer Fehlstellung der Beine tragen müssen. „Das war bestimmt nicht leicht“, sagt Femerling, „als dunkelhäutiger Junge zu der Zeit mit so einem Ding um die Beine in Berlin rumzulaufen.“ Aber wenn jemand darin eher eine Herausforderung gesehen habe als ein Hindernis, „dann ganz sicher Ademola“. Er habe auf jeden Fall diese Mentalität gehabt, sagt Demirel, „die kam von seiner Mutter. Dieses: ‚Du bist schwarz. Du bist hier ohne deinen Vater. Du und dein Bruder, ihr müsst hier irgendwie klarkommen. “ Und vermutlich hätte man die Geschichte mit den Beinen, sollte sie denn stimmen, schon irgendwo gelesen. Aber die vielen Geschichten über einen außergewöhnlichen Basketballer mit all ihren Randaspekten, Nebenschauplätzen und nebensächlichen wie schwerwiegenden Details wurden dann über Dirk Nowitzki geschrieben. Büker vermutet, dass diese mediale Omnipräsenz für Okulaja eher eine Belastung gewesen sei denn eine Hilfe. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist er mittlerweile für die Pressearbeit der Nationalmannschaft verantwortlich, und rund um jedes Länderspiel habe es zu dieser Zeit immer nur geheißen: „Dirk, Dirk, Dirk.“ An Ademola, der immer irgendwie versucht habe, sich mit Nowitzki zu messen, habe das genagt, sagt Büker. Irgendwann habe Okulaja sich bei Henrik Dettmann über mangelnde Spielzeit und zu wenige Würfe beschwert und Büker dann auf Wunsch des Bundestrainers die Spielstatistiken gewälzt. „Dabei kam heraus, dass sein Punkteschnitthöher lag, wenn er gemeinsam mit Dirk auf dem Parkett stand.“ Was übrigens niemanden in der Mannschaft wundert. „Mit Dirk auf dem Feld hatte einfach jeder mehr Platz, weil sich alle nur auf ihn gestürzt haben“, sagt Rödl. „Ademola war auch nicht dieselbe Art von Go-to-Guy wie Dirk, auch wenn er sich das vermutlich mehr gewünscht hätte.“ Er war keiner, den man permanent isolierte und der dann im Eins-gegen-eins seine Gegenspieler narrte. „Ademola musste auch nicht der Topscorer sein“, sagt Rödl. „Er hat anders dominiert. Er hat Spielverläufe mit seiner Energie verändert.“ Aber dennoch, aller statistischen Beweise, aller Beteuerungen zum Trotz, blieb da wieder dieses Gefühl von fehlender Anerkennung. So robust und unerschütterlich sein Ruf war, so ehrgeizig und zielstrebig er wirkte, sagt Büker, „konnte Ademola auf der anderen Seite genauso verletzlich und unsicher sein“. Einer, der sensibler als andere auf Witze reagierte, die auf seine Kosten gingen. Der es eigentlich gar nicht so mochte, sagt Büker, wenn man ihn „Adi“ nannte. Der eingeschnappt sein konnte, wenn man, wie in einem Aufzug in Indianapolis, bekannte Werbejingles mit seinem Namen verfremdete. „Ademola, yippie, yippie, yeah!“ Gleichzeitig habe Okulaja einen eigenen, auch sehr speziellen Humor gehabt, sagt Arigbabu. „Über viele Witze konnte nur er selbst lachen.“ Und natürlich, sagt Femerling, „hat er ebenso wie alle anderen trotzdem sein Fett wegbekommen.“ Weil diese Mannschaft in ihrer ganzen Unernsthaftigkeit nicht anders konnte. Dennoch habe man ihn manchmal, ob bewusst oder unbewusst, mehr mit Samthandschuhen angefasst als andere. Man hat Okulaja nicht öffentlich klagen gehört. „Er ist immer professionell mit seiner Rolle umgegangen“, sagt Büker. „Und dennoch hat er sich richtig gefreut, wenn es Presseanfragen für ihn gab. Er wollte sich schon mitteilen, wurde aber nicht immer gehört.“ Ich erinnere mich an ein langes Gespräch mit Okulaja in Braunschweig, 2003, beim Supercup. Wir waren in der Hotellobby verabredet, und bei allem, was ich über ihn wusste, hatteich dennoch keine Ahnung, was mich erwarten würde. Wir waren uns bis dahin allenfalls flüchtig begegnet, und auch wenn ich mich nicht mehr an jedes Detail des Gesprächs erinnern kann und mir den Artikel für ein paar Euro aus einer Pressedatenbank gezogen habe, weiß ich noch, wie viel Zeit er sich genommen hat, wie angenehm, weil unverkrampft das Gespräch war. Wir haben viel über seinen Traum gesprochen, eines Tages doch noch in der NBA zu spielen. Von den vielen Versprechungen vor der Draft, der Zeit auf der Bank bei den 76ers, dem Angebot der Spurs, das zu spät kam, weil er schon in Barcelona unterschrieben hatte. Gerade war er erst spürbar gefrustet aus der Summer League zurückgekommen, wo er wieder für die Spurs gespielt hatte. Er erzählte mir davon, dass es das letzte Mal gewesen sei. Dass jetzt Schluss sei mit diesem ewigen und doch vergeblichen Greifen nach den Sternen. Dass er es mit 28 Jahren nicht mehr nötig habe, sich in ein Schaufenster zu stellen und casten zu lassen. „Sollen sie sich doch ein Video ansehen, wenn sie interessiert sind“, hat er zu mir gesagt. Demirel kam Okulaja immer wie jemand vor, „der nie so wirklich angekommen ist, egal, was er gemacht hat“. Der immer noch einen draufsetzen wollte. Immer noch mehr erreichen. Büker glaubt, dass die geplatzten NBA-Träume zu jenen Dingen gehören, „die Ademola schon verfolgt haben“. Und ohne, dass wir jemals darüber gesprochen hätten, glaube ich auch, dass die Szene mit Türkoglu bei der EM in der Türkei ebenfalls dazugehörte. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie ihn belastet hat, auch wenn es aus seiner Sicht kein Fehler war. Zumindest nicht in dem Moment, weil er es aus dem College so kannte, in solchen Situationen nicht zu foulen. In Braunschweig haben wir auch über diese Szene gesprochen. Wir trafen uns wenige Tage vor der EM in Schweden, und natürlich waren die Erinnerungen an das Halbfinale zwei Jahre zuvor noch frisch. Im Nachhinein sei man immer schlauer, und ja, es sei ein Fehler gewesen, nicht zu foulen, hat Okulaja gesagt. Demirel sagt, dass sich Okulaja in den Jahren danach natürlich in ähnlichen Situationen „ein paar Sprüche anhören musste. Aber es gab niemanden, der ihn deshalb direkt kritisiert oder angemacht hätte.“ Fehler passieren im Laufe einer Karriere unzählige, doch nicht jeder Spieler hat das Glück, dass die Fehler irgendwann in Vergessenheit geraten. Stattdessen haben wir dann lieber über Ernährung geredet. Über Verzicht, Enthaltsamkeit, gesunde Einstellungen und die Kochkünste seiner Mutter. Über Nudelauflauf mit Huhn und gegrillten Naturreis mit Brokkoli. „Das ist die Tragik an dieser Geschichte, als wäre das nicht alles schon tragisch und traurig genug“, sagt Rödl. „Dass ausgerechnet der, der so gesund gelebt und am meisten auf sich geachtet hat, als Erster geht. Als wäre der Gedanke, dass er nicht mehr dabei ist, nicht schonallein unerträglich.“ „Wir haben uns über die Sportlernahrung hinaus, die wir bekommen haben, nie weitergehende Gedanken über unsere Ernährung gemacht“, sagt Demirel, „und Ademola konnte wirklich hartnäckig sein, wenn es für ihn in den Hotels nicht die extra bestellten Hühnchen oder Fisch gab. Das war schon echt bemerkenswert.“ „Dass der robusteste Athlet von uns allen, der, der vor Kraft nur so gestrotzt hat, dann so krank geworden ist, das ist doch Wahnsinn“, sagt Femerling, der wie Okulaja Jahrgang 1975 ist. Während der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in Peking sei Okulaja plötzlich aus dem Trainingslager auf Mallorca abgereist. „Wir hatten keine Ahnung, was los war“, sagt Femerling. Vielleicht wieder der Rücken, nachdem er sich schon im Vorjahr wegen der weichen Matratzen einen Nerv eingeklemmt hatte. Vielleicht sogar ernsthafter verletzt. Dass er einfach keinen Bock mehr hatte, konnte sich eigentlich niemand vorstellen, aber diese Nähe zu ihm hatte keiner, um das wirklich einschätzen zu können. „Niemand hat daran gedacht, dass es Krebs sein könnte“, sagt Femerling. „Das ist so weit weg von der Realität, in der man lebt.“ Während Okulaja kurz vor der Geburt seinen zweiten Sohnes erfährt, dass sein siebter Brustwirbel gebrochen ist, zersetzt von einem bösartigen Tumor im Knochenmark, dass es weitere kleinere Herde in der Wirbelsäule gibt und man so schnell wie möglich mit der Chemotherapie beginnen sollte, hören seine Mitspieler auf Mallorca in einem Besprechungsraum von der Diagnose. „Wir haben uns alle angesehen und konnten es nicht fassen“, sagt Femerling. Dass Verletzungen einen immer wieder aus der Bahn werfen konnten, wusste man entweder selbst oder hatte es bei anderen erlebt. Bei Spielern wie Jörg Lütcke oder Johannes Herber, deren Kreuzbänder mehrmals rissen und die gefühlt mehr Zeit mit Rehabilitationsmaßnahmen verbrachten, als auf dem Parkett zu stehen. „Um ehrlich zu sein, hatte ich das Gefühl, dass keiner von uns in dem Moment so genau wusste, wovon die da eigentlich redeten.“ Während der Spiele in Peking schreibt Femerling dann „Adi“ auf seine Schuhe.

Basketball Olympiaqualifikation Athen 19.07.2008
Kroatien (CRO) – Deutschland (GER)
Schuhe und Socken von Patrick Femerling mit dem Wort Adi (fuer Ademola Okulaja)
Foto: Camera4

Nationalmannschaften ‒ selbst jene, die sich über einen außergewöhnlichen Teamgeist und Zusammenhalt definieren ‒ sind Spielergemeinschaften auf Zeit. Aus Nationalmannschaften können tiefe Freundschaften entstehen oder flüchtige Kontakte. Je nach gemeinsamer Vergangenheit, Wohnort oder Vereinszugehörigkeit kann man anschließend zusammenbleiben oder sich aus den Augen verlieren. Dass die Chemotherapie erfolgreich endete, auch wenn es ausgeschlossen war, dass sie sämtliche Krebszellen vollständig zerstören würde, wusste man. „Er hat ja auch in dieser Krankheit wieder eine Herausforderung gesehen“, sagt Demirel. „Wie viel er da gemacht hat. Die ganzen Therapien, zwischen denen er sich keine Ruhe gegönnt hat, weil er unbedingt gewinnen wollte.“ Nur wenige Spitzensportler haben vermutlich so offen über eine schwere Krankheit gesprochen, wie es Okulaja einmal in einem Interview getan hatte. In all den Jahren war man sich auch hin und wieder über den Weg gelaufen, Okulaja hatte zuletzt auch mehr den Kontakt zu ehemaligen Mitspielern und Wegbegleitern gesucht, als er das früher getan hatte. Die deutsche Basketballwelt ist ein relativ kleiner Kosmos. Zwischenzeitlich hatte Okulaja als Agent gearbeitet und unter anderem Dennis Schröder in Braunschweig entdeckt und ihm den Weg in die NBA geebnet. Und noch wenige Wochen vor seinem Tod hatte Femerling ihn bei einem Spiel in Berlin getroffen. „Er hat gut ausgesehen. Ein gereifter Mann mit grauem Bart, aber auf mich hat er fit und gesund gewirkt.“ Nur sehr wenige, glaubt Femerling, hätten vermutlich in den letzten Tagen gewusst, wie schlecht es ihm gesundheitlich ging. „Er war nicht der Typ, der viel Persönliches über sich erzählt hat.“ Dass es am Ende so schnell ging, „war für mich nicht absehbar, und vermutlich ging das den meisten von uns so“. Während der Pandemie, sagt Demirel, seien sie öfter zusammen in Berlin spazieren gegangen. „Da war er schon anders.“ Nicht mehr so wortkarg. Und offener. „Obwohl wir uns schon so lange kannten, war da plötzlich eine Nähe und Offenheit, die es in der Form vorher nicht gegeben hatte.“ Plötzlich habe er auch eine Ruhe ausgestrahlt, die nicht mehr viel mit der Rastlosigkeit zu tun hatte, die Okulaja irgendwie immer umgeben hatte. „Ich glaube, er hat zuletzt Seiten an sich entdeckt, die er selbst nicht kannte“, sagt Demirel. Über seine Krankheit habe Okulaja jedoch auch ihm gegenüber so gut wie gar nicht gesprochen. Selbst als die Werte plötzlich immer schlechter wurden, habe er sich noch aus dem Krankenhaus heraus für die nächsten Tage verabreden wollen. Ademola Okulaja stirbt am 17. Mai 2022 in Berlin.„Ich muss oft an ihn denken, weil er der Erste aus unserer Generation ist, der nicht mehr da ist“, sagt Demirel. In Frankreich, im Garten eines Hauses, in das einige ehemalige Berliner Basketballer seit ein paar Jahren fahren und in dem Okulaja vor zwei Jahren noch gesessen hatte, haben sie einen Krieger der Sterne Wie gerne hätten wir auch mit Ademola Okulaja über diese Zeit in der Nationalmannschaft gesprochen. Und wie gerne mehr über ihn selbst erfahren. Leider ist das nicht mehr möglich. Große Geschichten kann man dennoch über ihn schreiben. Viel zu kleine hat es bislang gegeben. Über einen, der fehlt. Wie genau kann einem das eigentlich gelingen? Einen Spieler treffend und tiefgründig zu beschreiben und das möglichst bis in jeden Winkel seines Wesens, wenn selbst die, die Ademola Okulaja nach so vielen gemeinsamen Jahren wirklich und wahrhaftig kennen sollten, das kaum können. Wenn jemand so schwer zu greifen, weil zu begreifen ist. Stephen Arigbabu. Mithat Demirel. Patrick Femerling. Henrik Rödl. Für gewöhnlich hatte seinen ehemaligen Mitspielern in den vielen Gesprächen für dieses Heft ein beliebiger Name aus der Mannschaft als Stichwort genügt, und sie hatten die grandiosesten Geschichten aus dem Gedächtnis gekramt, als würde jede Erinnerung in einer Vitrine stehen, vollgestopft mit adoleszenten und anarchischen Trophäen. Jeder dumme Spruch von Demirel im Bus. Jede heimliche Zigarette von Femerling im Hotel. Jeder Dunk von Sven Schultze am Ende eines Trainings auf Mallorca, splitterfasernackt bis auf die Socken und Turnschuhe, obwohl Schultze schwört, mit Hose und nicht mit blankem Hintern gedunkt zu haben. Auf keinen Fall habe er eine Hose getragen, sagt Demirel. Femerling sagt, er habe irgendwo sogar noch ein altes Video gefunden. Keine Hose. Von Ademola Okulaja gibt es so gut wie keine dieser unverwechselbaren Anekdoten auf Abruf, keinen unerschöpflichen Almanach an großen und kleinen Ungeheuerlichkeiten, hanebüchen und zum Haareraufen, witzig, widerspenstig und mitunter ziemlich wild. „Ademola war cool, aber immer etwas anders. Er war geheimnisvoll“, sagt Arigbabu, der über zwölf Jahre bei Länderspielen gemeinsam mit Okulaja auf dem Parkett gestanden hat. Zum ersten Mal spielten sie 1996 in Buenos Aires zusammen gegen Kuba, da war Okulaja 21 Jahre alt und lief nach einer Saison als fester Bestandteil des Bundesligakaders von Alba Berlin und dem Gewinn des Korac-Cups, dem größten internationalen Erfolg einer deutschen Vereinsmannschaft, mittlerweile in North Carolina an der Seite von Vince Carter, Antawn Jamison und Shammond Williams auf. Und zum letzten Mal dann 2007 bei der Europameisterschaft in Spanien, als ihre Nationalmannschaftskarrieren im selben Spiel endeten, gegen Kroatien um Platz fünf. Wobei sich das in diesem Moment nur für Arigbabu nach Abschied angefühlt hatte. „Während wir weggegangen sind, hat er meistens sein eigenes Ding gemacht“, sagt Arigbabu. „Aber niemand wusste genau, was.“ Bei Femerling und Pesic habe er immer damit rechnen müssen, dass sie irgendwann mitten in der Nacht in sein Hotelzimmer stürmten und auf ihn sprangen. Weshalb er irgendwann anfing, sich den Wecker zu stellen, um vorbereitet zu sein. „Du hast dir ernsthaft den Wecker gestellt?“, fragt Femerling ungläubig. Aber Okulaja? „Keine Ahnung, wo der war. Das war schon irgendwie mysteriös“, sagt Arigbabu. Kein richtiger Außenseiter sei er deshalb gewesen, „aber irgendwie schon“. Einer, der nicht wirklich dabei war, „und doch immer voll akzeptiert und integriert“. Okulaja sei vielleicht nicht dieser Spielertyp gewesen, „der einer Mannschaft jenseits des Parketts viel gibt“, sagt Demirel. „Aber ohne jeden Zweifel ein Spieler, der alles dafür getan hat, dass seine Mannschaft gewinnt.“ Das, sagt Rödl, „war schließlich die große Stärke dieser Nationalmannschaft. Jeder konnte sein, wie er ist.“ Vielleicht ist auch das ein Grund, sagt Arigbabu, „warum er so schwer zu beschreiben ist“. Weil sie ihn gelassen haben. Weil er für sich sein konnte. „Und auf der anderen Seite hat er es uns genauso gegönnt, dass wir unterwegs waren und uns wie 14- bis 16-jährige Trottel benommen haben“, sagt Femerling. „Er war nie sauer oder angepisst.“ Und wenn man keinen Alkohol trinkt, verpasst man in so einer Mannschaft eben ein paar Geschichten. Und die anderen verpassen einen auch. Also ist das kein klassisches Porträt. Es ist keine Chronologie seiner sportlichen Stationen und größten Erfolge. Keine weitere Folge einer Serie aus Statistiken. Es ist auch kein Nachruf. Dersteht nur seinen Nächsten zu. Es ist der Versuch einer Annäherung. An den Spieler. Und vor allem an den Mitspieler. „Ademola war der wichtigste Spieler neben Dirk“, sagt Arigbabu, und niemand innerhalb des Teams habe jemals an dem Offensichtlichen gezweifelt. Vermutlich gibt es außer Arigbabu auch nur wenige Spieler im Kader, denen das Training für Training immer wieder und aus nächster Nähe vor Augen geführt wurde. Die es zu spüren bekamen. Und es am besten wussten. „Meistens habe ich ja gegen einen der beiden gespielt. Das war schon tough“, sagt Arigbabu. Bereits auf den Freiplätzen in Berlin, wo am Innsbrucker Platz Anfang der 90er alles begann mit Okulaja und der Liebe zum Basketball, hatte sich das angedeutet. „Und zwar alles“, sagt Demirel. Egal, wann er auf den Freiplatz gekommen sei, Okulaja sei schon dagewesen. „Er war einfach immer da, und er wollte immer mehr.“ Immer besser werden. Immer gewinnen. Immer recht haben. Immer diskutieren. „Um jeden Ball und manchmal eine halbe Stunde lang. Er hatte da, wie eigentlich in allem, was er gemacht hat, eine unglaubliche Ausdauer. Das kann gerade auf dem Freiplatz irgendwann echt anstrengend werden.“ Später in den Jugend- und Auswahlmannschaften, wo ihm Christoph Büker (Pressesprecher des Deutschen Basketball Bundes, damals Regionalliga-Spieler in Münster) oder Femerling (der damals noch in der Zweiten Liga bei Düsseldorf spielte) gegenüberstanden, war sein auffälliges, weil ungewöhnliches basketballerisches Talent dann für jeden offensichtlich.Diese herausragende Athletik und Dynamik, angetrieben von unbändigem Willen, nimmermüder Einsatzbereitschaft und unzweifelhaftem Ehrgeiz. „In keinem Spiel hat er aufgegeben“, sagt Rödl, „in keinem Training hat er sich jemals hängen lassen. Wir haben alle viel gemacht. Aber er war einer, dem das noch nicht genug war.“ Als „24-Stunden-Basketball-Typ“ bezeichnet ihn Arigbabu. „Für Ademola war auch alles ein Wettbewerb“, sagt Demirel. „Und er hat oft so gewirkt, als wäre er nie zufrieden mit dem, was er erreicht hat. Er hat verdammt hart an seinem Spiel gearbeitet. Er wollte das Maximale aus sich herausholen. Und jedes Jahr ist er besser geworden.“ Denn so außergewöhnlich seine physischen Voraussetzungen gewesen seien, ein außergewöhnliches basketballerisches Supertalent sei Okulaja nicht gewesen. „Er hat viel investiert, um sich Dinge anzueignen, die anderen leichter gefallen sind“, sagt Demirel. „Aber er hat einfach niemals aufgegeben.“ Weiter. Immer weiter. Bis zu den Sternen. Und weiter. Auf dem Campus in Chapel Hill erzählt man sich bis heute die Geschichte, wie Williams, der unter einer Schlafstörung litt, auch mitten in der Nacht in die Halle ging, um zu trainieren. „Und Ademola, der sehr eng mit Shammond war, hat ihn oft begleitet“, sagt Rödl. Überhaupt glaubt Rödl, der 1993 die NCAA-Meisterschaft mit den Tar Heels gewann und auf dessen Empfehlung sich Dean Smith überhaupt erst mit dem jungen Okulaja beschäftigt hatte, bis er irgendwann bei dessen Mutter im Wohnzimmer saß und es Apfelkuchen gab, „dass dieser Ort und seine ehemaligen Mitspieler für Ademola immer einen ganz besonderen Stellenwert hatten“. Oft habe Okulaja deshalb während der Länderspiele mitten in der Nacht mit seinen Leuten in den USA telefoniert, weshalb die Sache mit dem Einzelzimmer, das er bei Turnieren oft bewohnte, keine so schlechte Idee war. „Er war meiner Meinung nach niemand mit einem besonders großen Freundeskreis, aber die Verbindungen nach North Carolina waren speziell“, sagt Rödl. „Dort ist er auch jeden Sommer hin, um weiter zu trainieren“, sagt Demirel. Sweet Spot.

Wer sich selbst einen Eindruck davon verschaffen will, wie wichtig Chapel Hill für Okulaja war und umgekehrt, sollte sich unbedingt den Podcast anhören, den Williams mit ehemaligen Mitspielern nach Okulajas Tod aufgenommen hat. Und natürlich auch den Podcast mit Okulaja selbst. Und am besten sollte man ihn sich übrigens ansehen ‒ weil es auch einen Videomitschnitt gibt. Die fast neunzig Minuten (was deutlich länger als die Stunde ist, die der Podcast für gewöhnlich läuft) kommen einem sehr bekannt vor, weil man Okulaja dabei ähnlich wie die anderen Nationalspieler während der Videocalls für dieses Heft erlebt. Da ist dieses melancholische Zurückerinnern, die anekdotische Verbundenheit, das fantastische Flashback- Feuerwerk, das, wenn es einen nicht täuscht, nicht nur noch immer gut aussieht, sondern sich vor allem gut anfühlt. Wie sie im Wagen von Williams in Chapel Hill herumfuhren ‒ in dem diese übertriebene Musikanlage verbaut war, bei der der Bass einen Herzschlag verändern konnte ‒ und Mädchen anquatschten. Am College zu spielen, bedeutete Ende der 90er für Okulaja jedoch auch, in Deutschland für eine Weile vom medialen Radar zu verschwinden. Dass er in den vier Jahren mit NorthCarolina gleich zweimal im Final Four stand und dabei Zahlen auflegte, die eigentlich eine sichere Eintrittskarte in die NBA hätten sein müssen, das alles wurde erst retrospektiv mit vielen Jahren Verzögerung immer bemerkenswerter und deshalb erwähnenswerter. Zudem geisterte zu dieser Zeit das sorgsam gepflegte Vorurteil durch Basketballdeutschland, wonach Spieler an einem US- College die mitnichten bessere Ausbildung genossen. Sie sogar wichtige Entwicklungsjahre ihrer Karriere vergeuden würden. Svetislav Pesic, den vor allem die Berliner in der Nationalmannschaft nur „den Alten“ nennen, gehörte zweifelsohne zu den lautstärksten Verfechtern dieser Theorie. „Wobei ich schon glaube, dass er ohnehin nicht gut auf Ademola zu sprechen war, weil er nicht in Berlin geblieben ist“, sagt Rödl. Auch in Barcelona, vermutet Arigbabu, habe er deshalb gehen müssen, als Pesic kam. Und Büker erinnert sich an eine Pressekonferenz beim Supercup vor der Weltmeisterschaft in Indianapolis, als die beiden verbal aneinandergerieten, nachdem sich Pesic abfällig über die Summer League geäußert hatte, in der Okulaja versuchte, sich für einen NBA- Vertrag zu empfehlen. Die Schärfe habe ihn gleichzeitig überrascht und doch nicht gewundert, sagt Büker. Schon immer sei Ademola ein meinungsstarker, mitunter eigenwilliger und deshalb auch streitbarer Spieler gewesen, sagt Büker. Einer, der auf seine Art und Weise das Team geprägt habe. „Er hatte zweifelsohne seinen eigenen Kopf“, sagt Rödl. Und er sei mit einem immensen Selbstvertrauen aus Amerika zurückgekommen, wo er in North Carolina, bei einer der renommiertesten Basketballunis überhaupt, ein absoluter Star war. Und auch wenn es anschließend nie zu einem Engagement in der NBA kam, habe es nur wenige Spieler in Europa gegeben, die auf Vereinsebene auf solch eine Vita zurückblicken konnten und in ihren jeweiligen Teams eine solche Rolle gespielt hätten, sagt Rödl. „Er hat in anderen Ländern, in denen er gespielt hat, mit Sicherheit auch mehr Aufmerksamkeit bekommen als in Deutschland“, sagt Demirel. „Trotzdem hat es bei aller Überzeugung auch sehr viel Mut gebraucht, Trainern gegenüber aus seiner Meinung keinen Hehl zu machen und Dinge sehr offen anzusprechen“ , sagt Rödl. Kein Lautsprecher sei Okulaja gewesen, aber mitnichten zurückhaltend. „Er war vielleicht nicht immer ganz einfach“, sagt Femerling, „aber das musste er auch nicht sein.“ In einer Nationalmannschaft gehören unübersehbare und unüberhörbare Egos dazu. „So sind Profisportler“, sagt Femerling. Und im Idealfall gesteht man sich dabei gegenseitig zu, was man selbst für sich fordert. Was ihnen augenscheinlich oft besser als anderen Auswahlmannschaften gelungen sei. Neben dieser Akzeptanz, sagt Femerling, „brauchte Ademola zudem das Gefühl, wichtig zu sein. Dass man ihn respektiert und ihm einen gewissen Status in der Mannschaft zugesteht. Und den hat er ja auch bekommen. Schließlich hat er immer geliefert. Und er war immer da.“ Für die Nationalmannschaft zu spielen, sei für Okulaja eine Selbstverständlichkeit gewesen. „Ich glaube, er hat sich wohlgefühlt“, sagt Femerling. Eine Nominierung, egal ob für die Weltmeisterschaft in den USA oder die EM-Qualifikation auf Zypern, habe er nie in Frage gestellt. Auch nicht in den ersten Jahren, als er in einer sehr schwierigen Zeit zur Nationalmannschaft gestoßen sei, sagt Rödl, einer Zeit, „in der nach dem EM-Titel 1993 viele keine Lust mehr hatten zu spielen und in der es auch viel Ärger gab“. Schon damals sei auffällig gewesen, wie sehr sich Okulaja in jedem Training selbst herausfordern konnte. Und andere auch. Über die Jahre, so erinnern es die Spieler, habe man es irgendwann lediglich nur noch zur Kenntnis genommen, wenn es im Training mal wieder lauter wurde ‒ oder es einfach ignoriert. Nur manchmal, es muss etwa unter Dirk Bauermann in Dortmund gewesen sein, „hat mal jemand was zu ihm gesagt“. An die genauen Umstände kann sich Arigbabu nicht mehr erinnern, nur dass Bauermann sie hatte Linienpendel sprinten lassen, „weil Ademola irgendeine Scheiße gemacht hat. Natürlich werden dann mit den verklärten Jahren aus zwei irgendwann vier und aus vier dann acht“, sagt Arigbabu. „Doch auf jeden Fall hat Ademola nach jedem Lauf zu Bauermann rübergesehen und gerufen: ‚Come on, coach!‘ Und dann mussten wir wieder laufen.“ Und wieder. „Bis jemand Ademola angemacht hat, dass er endlich die Klappe halten soll.“ Und dennoch habe er nicht als nervensägender Querulant gegolten. „Ademola war vor allem hart zu sich selbst“, sagt Demirel, was man leicht missverstehen, weil als Mitspieler leicht auf sich beziehen konnte. Hin und wieder habe er deshalb vermitteln oder Okulaja auch beruhigen müssen. „Dieses Impulsive, das er hatte, konnte schon irritierend sein“, sagt Demirel. „Er hatte vermutlich immer irgendwie das Gefühl, es allen beweisen zu müssen“, sagt Femerling. „Dabei hatte er das gar nicht nötig.“ Und dann war da ja auch noch dieses verschmitzte Lächeln. Dieser „Nehmt es mir nicht übel, istdoch alles nur ein Spaß“-Blick. „Der hat ihn oft gerettet“, sagt Demirel. „Mit dem konnte keiner sauer auf ihn sein.“ Und überhaupt habe Okulaja niemals den Kontakt zur Gruppe verloren. Dass Ademola Okulaja ein Spielertyp war, den es in der deutschen Nationalmannschaft zuvor so nicht gegeben hatte, der dem Team, das traditionell nicht unbedingt wegen seiner Physik und Spielhärte gefürchtet wurde, etwas gab, was man wahlweise mit Körperlichkeit, Robustheit oder auch Widerstandsfähigkeit beschreiben könnte, diese Geschichte wäre während seiner 172 Länderspiele dennoch ganz sicher hoch und runter erzählt und dann noch unzählige Male rezitiert worden. Jeder hätte sie gekannt. Ganz unabhängig davon, welcher Trainer welche Meinung vertrat. Dass er das Spiel mehrdimensionaler machte und unberechenbarer. Dass er je nach Aufstellung und Konstellation ein permanentes Mismatch war. Wie schwer er zu verteidigen war, kaum aufzuhalten. Nicht für Small Forwards, die seiner Physis nur schwer etwas entgegenzusetzen hatten. Nicht für Power Forwards, die erhebliche Probleme mit seiner Geschwindigkeit bekamen. Und dass er das Spiel in gewisser Weise nach seinen eigenen Regeln spielte, weil er mit seiner hartnäckigen Unnachgiebigkeit beim Rebound so verdammt unangenehm und lästig sein konnte. Weil er einem keine Ruhe ließ. Weil er jede Nachlässigkeit, jeden Moment der Unkonzentriertheit umgehend bestrafte. „Pain in the ass.“ Wer da nicht mitspielte, hatte bereits verloren. „Ademola war einfach krass“, sagt Arigbabu. „Er hatte diese wahnsinnige Energie.“ Jetzt, da er sich für dieses Heft noch einmal das eine oder andere Spiel angesehen habe oder auch teilweise habe ansehen müssen, sagt Femerling, um den eigenen Erinnerungen auf die Sprünge zu helfen oder an Spiele erinnert zu werden, die er am liebsten vergessen würde, „ist mir wieder bewusst geworden, was für einen unglaublichen Motor er hatte. Wie er zu jedem Rebound gegangen ist, das war schon verrückt.“ Diese unnachahmliche Konsequenz war zweifelsohne Okulajas Alleinstellungsmerkmal, sein Markenzeichen. Und nichts machte das Bild des Kriegers, das er sich selbst gab und pflegte, wahrhaftiger als die unzähligen Rebounds, die er sich im Laufe seiner Karriere griff. Weil nichts den Warrior auf dem Parkett authentischer machte. Eins-gegen- eins. Eins-gegen-zwei. Eins-gegen-drei. Wie oft hat man Spieler, Trainer und Kommentatoren vom Kampf um den Rebound philosophieren gehört? Ein Rebound ist das Tattoo in den Statistiken. Ein Symbol von Schmerzen aushalten und Härte zeigen. Schwarz auf weiß. Defensiv ohnehin. Aber offensiv noch so viel mehr. Für einen Rebound muss man sich durchbeißen, Widerstände überwinden, den längeren Atem haben. Für einen Rebound muss man besser sein. Besser antizipieren. Sich besser positionieren. Besser agieren. Ein Rebound kann einem natürlich in den Schoß fallen, aber meistens bekommt man ihn nicht geschenkt. Man muss ihn sich erkämpfen. „Ich denke schon, dass er sich so gesehen hat“, sagt Femerling. Immer irgendwie kämpfen zu müssen. Und er meint sich an eine Geschichte zu erinnern, die man sich über den sehr jungen Okulaja erzählte. „Ich weiß nicht genau, ob sie stimmt, aber zu ihm passen würde sie auf jeden Fall.“ Als Dreijähriger war Okulaja aus Nigeria nach Berlin gekommen, als Kind habe er später eine Art Metallschiene aufgrund einer Fehlstellung der Beine tragen müssen. „Das war bestimmt nicht leicht“, sagt Femerling, „als dunkelhäutiger Junge zu der Zeit mit so einem Ding um die Beine in Berlin rumzulaufen.“ Aber wenn jemand darin eher eine Herausforderung gesehen habe als ein Hindernis, „dann ganz sicher Ademola“. Er habe auf jeden Fall diese Mentalität gehabt, sagt Demirel, „die kam von seiner Mutter. Dieses: ‚Du bist schwarz. Du bist hier ohne deinen Vater. Du und dein Bruder, ihr müsst hier irgendwie klarkommen. “ Und vermutlich hätte man die Geschichte mit den Beinen, sollte sie denn stimmen, schon irgendwo gelesen. Aber die vielen Geschichten über einen außergewöhnlichen Basketballer mit all ihren Randaspekten, Nebenschauplätzen und nebensächlichen wie schwerwiegenden Details wurden dann über Dirk Nowitzki geschrieben. Büker vermutet, dass diese mediale Omnipräsenz für Okulaja eher eine Belastung gewesen sei denn eine Hilfe. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist er mittlerweile für die Pressearbeit der Nationalmannschaft verantwortlich, und rund um jedes Länderspiel habe es zu dieser Zeit immer nur geheißen: „Dirk, Dirk, Dirk.“ An Ademola, der immer irgendwie versucht habe, sich mit Nowitzki zu messen, habe das genagt, sagt Büker. Irgendwann habe Okulaja sich bei Henrik Dettmann über mangelnde Spielzeit und zu wenige Würfe beschwert und Büker dann auf Wunsch des Bundestrainers die Spielstatistiken gewälzt. „Dabei kam heraus, dass sein Punkteschnitthöher lag, wenn er gemeinsam mit Dirk auf dem Parkett stand.“ Was übrigens niemanden in der Mannschaft wundert. „Mit Dirk auf dem Feld hatte einfach jeder mehr Platz, weil sich alle nur auf ihn gestürzt haben“, sagt Rödl. „Ademola war auch nicht dieselbe Art von Go-to-Guy wie Dirk, auch wenn er sich das vermutlich mehr gewünscht hätte.“ Er war keiner, den man permanent isolierte und der dann im Eins-gegen-eins seine Gegenspieler narrte. „Ademola musste auch nicht der Topscorer sein“, sagt Rödl. „Er hat anders dominiert. Er hat Spielverläufe mit seiner Energie verändert.“ Aber dennoch, aller statistischen Beweise, aller Beteuerungen zum Trotz, blieb da wieder dieses Gefühl von fehlender Anerkennung. So robust und unerschütterlich sein Ruf war, so ehrgeizig und zielstrebig er wirkte, sagt Büker, „konnte Ademola auf der anderen Seite genauso verletzlich und unsicher sein“. Einer, der sensibler als andere auf Witze reagierte, die auf seine Kosten gingen. Der es eigentlich gar nicht so mochte, sagt Büker, wenn man ihn „Adi“ nannte. Der eingeschnappt sein konnte, wenn man, wie in einem Aufzug in Indianapolis, bekannte Werbejingles mit seinem Namen verfremdete. „Ademola, yippie, yippie, yeah!“ Gleichzeitig habe Okulaja einen eigenen, auch sehr speziellen Humor gehabt, sagt Arigbabu. „Über viele Witze konnte nur er selbst lachen.“ Und natürlich, sagt Femerling, „hat er ebenso wie alle anderen trotzdem sein Fett wegbekommen.“ Weil diese Mannschaft in ihrer ganzen Unernsthaftigkeit nicht anders konnte. Dennoch habe man ihn manchmal, ob bewusst oder unbewusst, mehr mit Samthandschuhen angefasst als andere. Man hat Okulaja nicht öffentlich klagen gehört. „Er ist immer professionell mit seiner Rolle umgegangen“, sagt Büker. „Und dennoch hat er sich richtig gefreut, wenn es Presseanfragen für ihn gab. Er wollte sich schon mitteilen, wurde aber nicht immer gehört.“ Ich erinnere mich an ein langes Gespräch mit Okulaja in Braunschweig, 2003, beim Supercup. Wir waren in der Hotellobby verabredet, und bei allem, was ich über ihn wusste, hatte ich dennoch keine Ahnung, was mich erwarten würde. Wir waren uns bis dahin allenfalls flüchtig begegnet, und auch wenn ich mich nicht mehr an jedes Detail des Gesprächs erinnern kann und mir den Artikel für ein paar Euro aus einer Pressedatenbank gezogen habe, weiß ich noch, wie viel Zeit er sich genommen hat, wie angenehm, weil unverkrampft das Gespräch war. Wir haben viel über seinen Traum gesprochen, eines Tages doch noch in der NBA zu spielen. Von den vielen Versprechungen vor der Draft, der Zeit auf der Bank bei den 76ers, dem Angebot der Spurs, das zu spät kam, weil er schon in Barcelona unterschrieben hatte. Gerade war er erst spürbar gefrustet aus der Summer League zurückgekommen, wo er wieder für die Spurs gespielt hatte. Er erzählte mir davon, dass es das letzte Mal gewesen sei. Dass jetzt Schluss sei mit diesem ewigen und doch vergeblichen Greifen nach den Sternen. Dass er es mit 28 Jahren nicht mehr nötig habe, sich in ein Schaufenster zu stellen und casten zu lassen. „Sollen sie sich doch ein Video ansehen, wenn sie interessiert sind“, hat er zu mir gesagt. Demirel kam Okulaja immer wie jemand vor, „der nie so wirklich angekommen ist, egal, was er gemacht hat“. Der immer noch einen draufsetzen wollte. Immer noch mehr erreichen. Büker glaubt, dass die geplatzten NBA-Träume zu jenen Dingen gehören, „die Ademola schon verfolgt haben“. Und ohne, dass wir jemals darüber gesprochen hätten, glaube ich auch, dass die Szene mit Türkoglu bei der EM in der Türkei ebenfalls dazugehörte. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie ihn belastet hat, auch wenn es aus seiner Sicht kein Fehler war. Zumindest nicht in dem Moment, weil er es aus dem College so kannte, in solchen Situationen nicht zu foulen. In Braunschweig haben wir auch über diese Szene gesprochen. Wir trafen uns wenige Tage vor der EM in Schweden, und natürlich waren die Erinnerungen an das Halbfinale zwei Jahre zuvor noch frisch. Im Nachhinein sei man immer schlauer, und ja, es sei ein Fehler gewesen, nicht zu foulen, hat Okulaja gesagt. Demirel sagt, dass sich Okulaja in den Jahren danach natürlich in ähnlichen Situationen „ein paar Sprüche anhören musste. Aber es gab niemanden, der ihn deshalb direkt kritisiert oder angemacht hätte.“ Fehler passieren im Laufe einer Karriere unzählige, doch nicht jeder Spieler hat das Glück, dass die Fehler irgendwann in Vergessenheit geraten. Stattdessen haben wir dann lieber über Ernährung geredet. Über Verzicht, Enthaltsamkeit, gesunde Einstellungen und die Kochkünste seiner Mutter. Über Nudelauflauf mit Huhn und gegrillten Naturreis mit Brokkoli. „Das ist die Tragik an dieser Geschichte, als wäre das nicht alles schon tragisch und traurig genug“, sagt Rödl. „Dass ausgerechnet der, der so gesund gelebt und am meisten auf sich geachtet hat, als Erster geht. Als wäre der Gedanke, dass er nicht mehr dabei ist, nicht schonallein unerträglich.“ „Wir haben uns über die Sportlernahrung hinaus, die wir bekommen haben, nie weitergehende Gedanken über unsere Ernährung gemacht“, sagt Demirel, „und Ademola konnte wirklich hartnäckig sein, wenn es für ihn in den Hotels nicht die extra bestellten Hühnchen oder Fisch gab. Das war schon echt bemerkenswert.“ „Dass der robusteste Athlet von uns allen, der, der vor Kraft nur so gestrotzt hat, dann so krank geworden ist, das ist doch Wahnsinn“, sagt Femerling, der wie Okulaja Jahrgang 1975 ist. Während der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in Peking sei Okulaja plötzlich aus dem Trainingslager auf Mallorca abgereist. „Wir hatten keine Ahnung, was los war“, sagt Femerling. Vielleicht wieder der Rücken, nachdem er sich schon im Vorjahr wegen der weichen Matratzen einen Nerv eingeklemmt hatte. Vielleicht sogar ernsthafter verletzt. Dass er einfach keinen Bock mehr hatte, konnte sich eigentlich niemand vorstellen, aber diese Nähe zu ihm hatte keiner, um das wirklich einschätzen zu können. „Niemand hat daran gedacht, dass es Krebs sein könnte“, sagt Femerling. „Das ist so weit weg von der Realität, in der man lebt.“ Während Okulaja kurz vor der Geburt seinen zweiten Sohnes erfährt, dass sein siebter Brustwirbel gebrochen ist, zersetzt von einem bösartigen Tumor im Knochenmark, dass es weitere kleinere Herde in der Wirbelsäule gibt und man so schnell wie möglich mit der Chemotherapie beginnen sollte, hören seine Mitspieler auf Mallorca in einem Besprechungsraum von der Diagnose. „Wir haben uns alle angesehen und konnten es nicht fassen“, sagt Femerling. Dass Verletzungen einen immer wieder aus der Bahn werfen konnten, wusste man entweder selbst oder hatte es bei anderen erlebt. Bei Spielern wie Jörg Lütcke oder Johannes Herber, deren Kreuzbänder mehrmals rissen und die gefühlt mehr Zeit mit Rehabilitationsmaßnahmen verbrachten, als auf dem Parkett zu stehen. „Um ehrlich zu sein, hatte ich das Gefühl, dass keiner von uns in dem Moment so genau wusste, wovon die da eigentlich redeten.“ Während der Spiele in Peking schreibt Femerling dann „Adi“ auf seine Schuhe. Nationalmannschaften ‒ selbst jene, die sich über einen außergewöhnlichen Teamgeist und Zusammenhalt definieren ‒ sind Spielergemeinschaften auf Zeit. Aus Nationalmannschaften können tiefe Freundschaften entstehen oder flüchtige Kontakte. Je nach gemeinsamer Vergangenheit, Wohnort oder Vereinszugehörigkeit kann man anschließend zusammenbleiben oder sich aus den Augen verlieren. Dass die Chemotherapie erfolgreich endete, auch wenn es ausgeschlossen war, dass sie sämtliche Krebszellen vollständig zerstören würde, wusste man. „Er hat ja auch in dieser Krankheit wieder eine Herausforderung gesehen“, sagt Demirel. „Wie viel er da gemacht hat. Die ganzen Therapien, zwischen denen er sich keine Ruhe gegönnt hat, weil er unbedingt gewinnen wollte.“ Nur wenige Spitzensportler haben vermutlich so offen über eine schwere Krankheit gesprochen, wie es Okulaja einmal in einem Interview getan hatte. In all den Jahren war man sich auch hin und wieder über den Weg gelaufen, Okulaja hatte zuletzt auch mehr den Kontakt zu ehemaligen Mitspielern und Wegbegleitern gesucht, als er das früher getan hatte. Die deutsche Basketballwelt ist ein relativ kleiner Kosmos. Zwischenzeitlich hatte Okulaja als Agent gearbeitet und unter anderem Dennis Schröder in Braunschweig entdeckt und ihm den Weg in die NBA geebnet. Und noch wenige Wochen vor seinem Tod hatte Femerling ihn bei einem Spiel in Berlin getroffen. „Er hat gut ausgesehen. Ein gereifter Mann mit grauem Bart, aber auf mich hat er fit und gesund gewirkt.“ Nur sehr wenige, glaubt Femerling, hätten vermutlich in den letzten Tagen gewusst, wie schlecht es ihm gesundheitlich ging. „Er war nicht der Typ, der viel Persönliches über sich erzählt hat.“ Dass es am Ende so schnell ging, „war für mich nicht absehbar, und vermutlich ging das den meisten von uns so“. Während der Pandemie, sagt Demirel, seien sie öfter zusammen in Berlin spazieren gegangen. „Da war er schon anders.“ Nicht mehr so wortkarg. Und offener. „Obwohl wir uns schon so lange kannten, war da plötzlich eine Nähe und Offenheit, die es in der Form vorher nicht gegeben hatte.“ Plötzlich habe er auch eine Ruhe ausgestrahlt, die nicht mehr viel mit der Rastlosigkeit zu tun hatte, die Okulaja irgendwie immer umgeben hatte. „Ich glaube, er hat zuletzt Seiten an sich entdeckt, die er selbst nicht kannte“, sagt Demirel. Über seine Krankheit habe Okulaja jedoch auch ihm gegenüber so gut wie gar nicht gesprochen. Selbst als die Werte plötzlich immer schlechter wurden, habe er sich noch aus dem Krankenhaus heraus für die nächsten Tage verabreden wollen. Ademola Okulaja stirbt am 17. Mai 2022 in Berlin. „Ich muss oft an ihn denken, weil er der Erste aus unserer Generation ist, der nicht mehr da ist“, sagt Demirel. In Frankreich, im Garten eines Hauses, in das einige ehemalige Berliner Basketballer seit ein paar Jahren fahren und in dem Okulaja vor zwei Jahren noch gesessen hatte, haben sie einen Granatapfelbaum gepflanzt.

Basketball Trainingslager Palma de Mallorca (ESP) 02.08.2007
Deutsche Basketball Nationalmannschaft
Ademola Okulaja
Foto: Camera4